ANALYSE. Jetzt zeigt sich ganz besonders, was mit der „Wiener Zeitung“ verloren gegangen ist und warum ein Sozialforschungsinstitut wie SORA unverzichtbar ist.
Ab/ge/hen. Umgangssprachlich: Los sein, sich abspielen. Österreichisch: Bedauern, dass jemand oder etwas nicht mehr anwesend oder vorhanden ist. (Quelle: Wiktionary)
ÖVP und Grüne haben gefunden, dass die „Wiener Zeitung“ nach 320 Jahren nicht mehr gehalten werden kann und sie daher eingestellt. Gemeint ist die Tageszeitung. Und natürlich: Wenn man sich bloß (!) die Leserschaft und den Werbemarkt anschaut, kann man vielleicht Verständnis dafür aufbringen. Gerade jetzt wird jedoch deutlich, was mit der „Wiener Zeitung“ verloren gegangen ist: Ein Medium, das permanent dran ist, auszuleuchten, was wichtig ist. Innen-, aber auch außenpolitisch (unter anderem mit Hilfe von Korrespondenten). Oder auch gesellschaftlich und kulturell.
Dies ist kein Plädoyer, die „Wiener Zeitung“ wieder erscheinen zu lassen, sondern, Journalismus, der sich um Erwähntes bemüht, verstärkt in den Fokus zu rücken: In der Branche herrscht gerade eine Stimmung, wie sie möglicherweise bei den Fiakern war, als das Automobil aufgekommen ist. Sehr viele Akteur:innen zweifeln daran, dass sie in ein paar Jahren noch eine Existenzgrundlage haben werden mit dem, was sie tun. Das ist ein Hinweis darauf, dass hier etwas gefährdet ist.
Bundeskanzler, Grünen-Mediensprecherin, geschweige denn Medienministerin wirken nicht so, als sei ihnen das bewusst. Schlimmer: Herbert Kickl (FPÖ) dürfte die Entwicklungen sogar eher sehen und sich freuen. Ist Journalismus tot, hat er (ein Stück mehr) freies Spiel.
Das ist das eine, das andere: Journalismus würde immer wichtiger werden. Politische Menschen können fundamentale Ereignisse wie die Coronapandemie sowie die Kriege in der Ukraine und in Israel erst recht nicht ignorieren. Es ist eine Weltbürger:innenpflicht, sich damit auseinanderzusetzen. Aber wie? Mit Hilfe von Twitter (X) oder Facebook? Mit Hilfe von Boulevard- und Gratiszeitungen, die auf Reichweiten und Klicks aus sind? Das ist schon rein körperlich eine Zumutung. Geistig sowieso.
Natürlich: Hierzulande gibt es den ORF und nicht einmal mehr ein Dutzend (!) Zeitungen, die es ermöglichen, tagesaktuell am Geschehen zu bleiben und Einordnungen zu erhalten. Sie alle haben jedoch Probleme: Der ORF ist finanziell einigermaßen abgesichert, steht aber unter politischem Druck. Zeitungen haben unternehmerisch zu kämpfen. Das sind keine Voraussetzungen dafür, dass ein Chefredakteur oder eine Chefredakteurin hergehen und sagen kann, „Koste es, was es wolle“, die besten Leute kümmern sich ab sofort ausschließlich um hintergründige, analytische Beiträge zum Krieg in Israel. Die „Wiener Zeitung“, die de facto von der öffentlichen Hand gelebt hat, konnte sich das eher leisten.
Was tun? Runter mit öffentlichen Inseraten, rauf mit Förderungen, die Journalismus stärken, den politische Menschen brauchen, um nicht zu verzweifeln. Zu glauben, dass das allein mit Abo- und Werbeerlösen funktionieren könnte, ist naiv. Nötig ist allemal ein mittlerer, zweistelliger Millionenbetrag pro Jahr.
Politschen Menschen nützlich sind auch Sozialforschungsinstitute wie SORA. Zugegeben: dieSubstanz.at zitiert kein Institut so oft wie dieses. Wobei es weder persönliche Beziehungen noch irgendwelche Verträge oder Abhängigkeitsverhältnisse gibt. Es ist ganz einfach so, dass kein anderes Institut einerseits Analysen zu Wahlen und andererseits Studien zu gesellschaftlichen Entwicklungen liefert, die in Summe einen vergleichbaren Erkenntnisgewinn bringen würden.
Auch das wird immer wichtiger: All die multiplen Krisen machen etwas mit der Gesellschaft. Die Regierung will darüber hinwegtäuschen und so tun, als würde es allen gut gehen, würden selbst alle Eltern mit sehr wenig Geld ihren Kindern täglich ein warmes Essen verabreichen können. Umgekehrt mag es Leute geben, die so tun, als wäre das die Ausnahme. Beides ist Unsinn. Umso verhängnisvoller ist es, dass belastbare Informationen dazu, wie es den Menschen in Österreich geht, wie sie politisch ticken und Politik sowie konkrete Herausforderungen sehen, rar sind. SORA ist ein umso unverzichtbarerer Lieferant dafür. Mit Demokratie-, Integrations- und vielen andern „Monitoren“ (Erhebungen).
Aber darüber muss man sich jetzt Sorgen machen: SORA wird an Wahltagen nicht mehr für den ORF arbeiten. Ex-Geschäftsführer Günther Ogris hat etwas gemacht, was nicht geht. Er hat sich quasi auf SORA-Briefpaper als Berater von SPÖ-Chef Andreas Babler angeboten. Inkl. Empfehlungen, wie dieser gegen Mitbewerber vorgehen sollte. Das ist ein Fall von Unvereinbarkeit. Man kann nicht für den ORF Äquidistanz walten lassen und für den Vertreter einer größeren Partei arbeiten (wollen). Auch wenn Hochrechnungen und Strategieberatung nichts miteinander zu tun haben. Es geht um die Optik, um die Glaubwürdigkeit. Insofern ist diese Trennung, die der ORF nach Druck von ÖVP und FPÖ ausgesprochen hat, nachvollziehbar.
Alarmierend ist jedoch, dass SORA gerade auch den „Demokratietag“, einen Fachkongress, absagen musste. Begründung: Kurzfristig seien die Beteiligten, die „Central European University“ (CEU) und das Unternehmen, das von der „Wiener Zeitung“ übrig geblieben ist und unter anderem noch eine magazinartige Website betreibt, abgesprungen. In einem Land, in dem wenig nicht politisch motiviert ist, lässt das Schlimmeres befürchten.