ANALYSE. Zum Warnstreik der Eisenbahner: Personalmangel ist auch bei KV-Verhandlungen zu einem Faktor geworden. Ob in Verkehr oder Handel: Zahl offener Stellen hat sich vervielfacht.
Kennzeichnend für österreichische Lohnrunden ist traditionell die nach dem ehemaligen ÖGB-Präsidenten Anton Benya benannte „Benya-Formel“: Die Erhöhung ergibt sich demnach aus einer Abtgeltung der Inflation und einem Anteil am Produktivitätszuwachs. Das ist jedoch einfacher gesagt als getan bzw. zunehmend unzureichend. Erstens: Einer außergewöhnlich hohen Inflation steht eine Eintrübung der wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber. Sprich: Es kann für Unternehmen schwieriger werden, genügend zu verdienen, um eine heute fixierte Abgeltung in Zukunft finanzieren zu können.
Zweitens: Der Arbeitskräftemangel ist zu einem Faktor geworden, der zumindest vorerst die Arbeitnehmerseite stärkt. Auch vor diesem Hintergrund sollte man sich über den Warnstreik der Eisenbahner nicht wundern.
Österreich erreicht – wie hier berichtet – einen demographischen Kipppunkt. Die Bevölkerung im „erwerbsfähigen Alter“ (15 bis 64) wächst nicht mehr. Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) hält dazu in einer Untersuchung fest, dass das zwar den Arbeitsmarkt entlasten, andererseits aber auch „potenziell zu einem höheren Lohnwachstum beitragen“ könnte.
Die ÖBB wissen, wovon die Rede ist. Sie suchen hängeringend nach neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das Unternehmen braucht allein 500 Lokführer, wie die „Kleine Zeitung“ hier berichtete. Sie zu finden, wird – wenn überhaupt – nur bei entsprechender Bezahlung gelingen.
These: Vorübergehend stärkt das die Position der Gewerkschaft. Längerfristig wird es jedoch zu einem gesamtwirtschaftlichen und auch -gesellschaftlichen Problem. Wenn es nicht mehr genügend Personal gibt, müssen Betriebe ihr Angebot einschränken oder zusperren. In der Gastronomie ist das bereits feststellbar. Da und dort werden hier auch in Tourismusregionen die Öffnungszeiten von Restaurants eingeschränkt.
Der wachsende Personalmangel kommt auch in der Entwicklung der Zahl offener Stellen zum Ausdruck, die das AMS ausweist: Unterbrochen allein durch die Coronakrise 2020 ist sie im zum Beispiel im Bereich Verkehr seit geraumer Zeit stark steigend. Belief sie sich im Oktober 2015 auf 716 österreichweit, so waren es zuletzt 5250 (siehe Grafik).
Stark steigend ist der Trend auch im Handel, wo die KV-Verhandlungen ebenfalls festgefahren sind. Hier hat sich die Zahl offener Stellen seit Oktober 2015 beinahe verfünffacht und belief sich zuletzt auf 23.077.