Gehen wir vom Schlimmsten aus

-

ANALYSE. Vielleicht sollte man anfangen, nicht Verschärfungen, sondern Lockerungen als Ausnahme zu begreifen. Zumal die ganze Sache trotz Impfung noch sehr lange dauern dürfte.

Die „Neuer Zürcher Zeitung“ spricht etwas aus, was in der ganzen Freude über die baldigen Corona-Impfungen untergeht: Die Wirksamkeit von bis zu 95 Prozent beziehe sich ausschließlich auf das Verhindern von Erkrankungen. „Inwiefern die Impfstoffe auch Übertragungen des Coronavirus verhindern können, weiß man schlicht noch nicht.“

Man muss also davon ausgehen, dass die Pandemie so gefährlich bleiben könnte, bis ein größerer Teil der Bevölkerung geimpft ist. Laut Gesundheitsministerium wird es jedoch erst „ab dem 2. Quartal 2021“ in die „breite Verimpfung“ gehen können. Zumal das dauert, wäre es schon bemerkenswert, wenn im Sommer des kommenden Jahres genügend Leute geschützt wären.

Aber gehen wir einfach einmal davon aus, dass das gelingt. Es reicht nämlich dafür, zu sagen, dass bei der Bekämpfung der Pandemie eine Richtungsänderung vernünftig sein könnte.

Die Ausgangslage: Man muss heute davon ausgehen, dass das Infektionsgeschehen nicht mehr soweit zurückgeht, dass man zu so weitreichenden Lockerungen wie im vergangenen Frühsommer schreiten kann. Geht es weiter wie bisher, werden jedoch die Nerven von fast allen Menschen in Österreich überstrapaziert: Dann erleben wir immer wieder das, was in den vergangenen Wochen passiert ist. Es gibt beinahe täglich Änderungen. Einmal bleiben die Weihnachtsferien „fix“, wie sie sie immer waren, dann werden sie verlängert. Einmal wird Hoffnung auf einen baldigen Start des Wintertourismus gemacht, dann wird wieder alles abgesagt. Einmal werden die Geschäfte geöffnet, schon wird über eine neuerliche Schließung zumindest über die Feiertage nachgedacht. Eine dritte Welle gilt als wahrscheinlich und so weiter und so fort.

Vielleicht sollte man den Spieß umdrehen und davon ausgehen, dass zumindest bis zum Sommer 2021 fast nichts geht. Klar: Das wäre eine Katastrophe. Es würde aber zu einer größeren Planungssicherheit führen. Kein Gastronom würde sich darauf vorbereiten, Anfang Jänner wieder Gäste begrüßen zu dürfen und dann noch viel tiefer fallen, weil er wenig später wieder zumachen muss. Niemand würde einen Urlaub im Frühling buchen. Eltern könnten sich zumindest darauf einstellen, dass die Regierung jederzeit wieder aufhört mit dem Präsenzunterreicht und die Kinder quasi permanent zu Hause bleiben. Niemand würde sich schon freuen, in Kürze wieder mit Freunden zusammensitzen zu können und dann umso mehr enttäuscht sein, weil es in letzter Minute wieder irgendeine Verordnung gibt, die das verbietet.

Das ist ausdrücklich kein Plädoyer für einen brutalen Lockdown in den nächsten sechseinhalb Monaten. Es geht vielmehr darum, sich von der Vorstellung zu lösen, dass die zweite Welle vorbeigeht, geimpft wird und bald alles gut ist. Das ist so unwahrscheinlich, dass es naiv wäre, davon auszugehen. Vor allem aber verstärkt es die erwähnten Enttäuschungen  – und das wiederum könnte zu einer Art Massendepression und noch mehr Pleiten führen.

Geht man jedoch davon aus, dass grundsätzlich einmal gar nichts geht, fällt zumindest die Illusion weg, dass Verschärfungen die Ausnahme sind. Dann werden Lockerungen zur Ausnahme – die unerwartete Chancen, wie einen Kurzurlaub oder ein Treffen mit Freunden ermöglicht. Zumindest für die Psyche wäre das ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

dieSubstanz.at spricht Sie an? Unterstützen Sie dieSubstanz.at >

dieSubstanz.at – als Newsletter, regelmäßig, gratis

* erforderliche Angabe


Könnte Sie auch interessieren

4 Kommentare
GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner