„Die Zukunft von Ö1 ist bedroht“

IM WORTLAUT. Der Autor Robert Menasse warnt davor, den Kultursender zu zerstören. Er müsse helfen, „einer Politik zu widerstehen, die nur dumme Willfährigkeit wünscht“. 

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IM WORTLAUT. Der Autor Robert Menasse warnt davor, den Kultursender zu zerstören. Er müsse helfen, „einer Politik zu widerstehen, die nur dumme Willfährigkeit wünscht“. 

Der ORF-Sender Ö1 hat gerade seinen 50. Geburtstag gefeiert. Auf der Festveranstaltung im Radiokulturhaus hielt der Autor Robert Menasse am vergangenen Sonntag die Festrede. Sie war geprägt von Wertschätzung, aber auch größter Sorge. Nachfolgend der Redetext (Titel: „So lange die Sterne funkeln …“) im Wortlaut.  

„Sehr geehrte Damen und Herren, bekanntlich weiß Mark Zuckerberg, wenn er es wissen will, wer wieviel Zeit im Facebook verbringt, und was wen im Besonderen interessiert. Ich habe noch nicht gehört, dass das Radio dies auch schon kann. Aber nun habe ich den Verdacht. Denn es muss den Verantwortlichen von Ö1 aufgefallen sein, dass ich ein Ö1-Junkie bin, ohne besondere Vorlieben und ohne Einschränkungen, ich bin sozusagen das Ideal des Universalhörers dieses Senders. Und nur deshalb, auf Grund eines geheimen Argentinier-Algorithmus, „Hörer gehören gefiltert“, können sie auf die Idee gekommen sein, ausgerechnet mich dazu einzuladen, bei der Feier zum 50. Geburtstag von Ö1 eine Festrede zu halten, um eine Liebe zu erklären, die ich wirklich empfinde, und mich im Namen aller zu bedanken, für die Österreich ein Kulturraum und nicht ein Revolverblatt ist.

Meine Antwort auf die Frage, ob ich also hier, im Radiokulturhaus nämliche Rede bereit wäre zu halten, war nicht sehr originell, sie wird nicht als besonders gelungener Aperçu in die Literaturgeschichte eingehen, ich sagte nämlich: „Hier stehe ich dazu, ich kann nicht anders!“

Aber ich hatte eines nicht bedacht. Eine Geburtstagsrede hat immer auch eine bedrückende Gemeinsamkeit mit Grabreden oder Nachrufen. Die Gemeinsamkeit liegt im nil nisi bene, also in der verständlichen Beschränkung darauf, nur Gutes, nur das Beste zu sagen. Deshalb hat eine solche Rede, zumindest für den, der sie schreiben muss, auf alle Fälle etwas Fesselndes.

Es gibt ja doch auch einiges zu sagen, für das ein Geburtstagsfest nicht der richtige Ort ist, andererseits aber doch der beste, weil da alle, die es angeht, zusammenkommen und zuhören.

Und so hatte ich, über diese Rede nachdenkend, einige schlaflose Nächte.

Man taucht in solchen Nächten tief ein in die Vergangenheit und in die eigenen Abgründe. Ich erinnere mich gut an die Gründung von Ö1 vor fünfzig Jahren. Allerdings unter dem Titel „Gründung von Ö3“. Ich war damals ein Schüler in der Vorpubertät, Zögling eines Internats, weggesperrt vom Leben da draußen, von dem wir Zöglinge wenig mitbekamen, aber das wussten wir: es gibt da eine neue Jugendkultur, eigentlich unsere Kultur, Popkultur, Popmusik, frech und aufsässig und laut, während wir mit Sprechverbot in Zweierreihen vom Schlafsaal in die Waschräume, von dort in den Speisesaal und dann in die Klassenräume marschierten. Wir wussten, dass es da draußen die Rolling Stones gab, die I can get no satisfaction sangen, während wir nach dem Kommando In Zweierreihen aufstellen! vom Studierraum zum Schlafsaal schritten. Wir wollten Let´s spend the night together hören, obwohl wir noch nicht einmal Erfahrung mit I want to hold your hand gemacht hatten. Ein geheimes Kofferradio von Kapsch war der größte Schatz, um den sich die Zöglinge, wie Indianer ums Lagerfeuer, im Schlafsaal versammelten, nachdem die Nachtruhe ausgerufen und das Licht ausgeschaltet worden war – wenn wir Batterien hatten. Und wenn wir krachend irgendwie Radio Luxemburg hereinbekamen.

Aber wenn da einer die Absicht hat, dieses Haus preiszugeben und diesen Sender zusammenzustutzen zu einem Produzenten von Content zur Überbrückung zwischen zwei Werbeeinschaltungen, dann werde ich dieses Mikrophon kapern, dann werde ich zum Moser, dann werde ich zum Aufstand aufrufen. 

Und dann die Nachricht, dass der ORF- Intendant Gerd Bacher einen eigenen Popsender in Österreich einführe. Das war revolutionär. Gerd Bacher war für uns damals ein Radio-Che Guevara! Nebenbei wurde damals eben auch Ö1 und Österreich Regional gegründet. Was wir also heute feiern, ist in Wahrheit der Geburtstag von Drillingen.

Aber das mit dem Kofferradio ohne Batterien im Internat war mühsam. Und wenn ich in den Ferien zu Hause war, verlor ich bald das Interesse an Ö3. Ja, es gab da ein paar interessante Sendungen, zum Beispiel die Music Box – aber da hätte ich hellhöriger sein müssen: da hörte ich zum ersten Mal von einem gewissen Wolfgang Schüssel, der drohte, Österreich zu modernisieren – damals meinte er die Einführung von Jazzmessen bei den Sonntagsgottesdiensten.

Und so drehte ich weiter, bis das magische Auge des Radios mir kurz zuzwinkerte und eine scharfe Pupille bekam. Da begann meine Liebe zu Ö1. Wie alt war ich damals? 14 oder 15 Jahre, in den Ferien zu Hause, eingesperrt in meinem Zimmer, nun hatte ich mich selbst eingesperrt, weil meine Mutter mich natürlich nicht verstand – und ich hörte auf Ö1 zum ersten Mal eine Beethoven-Symphonie, die Neunte – was war ich ergriffen! Ich war atemlos in dieser Nacht. Ich drehte ganz laut, ich war nur noch eine vibrierende Seele in diesem Klangraum, aber da merkte ich, dass diese Symphonie nicht nur aus meinem Radio kam, es gab da leise eine zweite Quelle, ich drehte mein Radio leiser und hörte, dass die Musik tatsächlich auch von wo anders herkam, ich öffnete das Fenster, dann die Türe meines Zimmers, und begriff: meine Mutter hört im Wohnzimmer das selbe Programm, und da dreht ich mein Radio wieder lauter und meine Mutter drehte ihres lauter, ich hörte ein kurzes fröhliches Lachen von ihr, und dann bestand die Welt nur noch aus dem Jubel der Ode an die Freude in der Vereinigung unserer beider Radios – das war mein erstes Strereo!

Ich habe mich manchmal, zuletzt in einer schlaflosen Nacht, in der ich über diese Rede nachdachte, gefragt, wie es Menschen machen, die keine guten Musikunterricht in der Schule haben oder hatten, keinen Zugang zu guten Konzertsälen – was täten sie ohne Ö1? Leider muss man heute diese Frage umkehren in die Feststellung: Wir sehen, was sie tun ohne Ö1.

Ich hörte in Ö1 zum ersten Mal Rilke-Gedichte, Ich war fassungslos, als die schönsten Stimmen der Welt Zeilen lasen, wie „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren…“, oder „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen / Wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören / Und ohne Fuß noch kann ich zu dir gehen“ , das war in der Sendung mit dem ewig gültigen Vintage-Titel „Du holde Kunst“. Diese Sendung, die ich bis heute tunlichst nicht versäume, hat eine Ehrfurcht vor dem Leben, der Größe der Menschen in ihren Möglichkeiten und einen Ehrgeiz im Streben nach Erlösung durch Kunst in mein Herz gepflanzt, ich währe ohne die „holde Kunst“ heute nicht der, der ich bin. Seit 1967 gibt es diese Sendung auf Ö1. Und ich möchte scheu anmerken: wer immer mit dem Gedanken spielen sollte, diese Sendung, weil altmodisch, abzuschaffen, muss damit rechnen, von mir erdolcht zu werden.

Und die Nachrichtenredaktion von Ö1 – sie ist ein Juwel! Ich lese nach Möglichkeit mehrere Zeitungen täglich. Aber ein Tag ohne Morgenjournal geht gar nicht. Nebenbei: orf.at ist das Äquivalent im Netz. Seriös, informativ und perfekt gemacht. Damit ersparen Sie sich alle anderen Portale, deren Standard es ist, möglichst viele Hassposters anziehen, um durch die Vielzahl ihrer Klicks Werbebanner etwas teurer verkaufen zu können.

Ach, das Lob. Ich könnte noch lange loben, es gibt bei Ö1 so viele gute Gründe für Lob und Begeisterung, nicht zufällig ist Ö1 das erfolgreichste Kulturradio der Welt! Und ich bin sicher dass Ö1 noch sehr viel Lob gut vertragen kann. Mir wurde unlängst, nach einem Radio-Interview, das ich in London gab, von dem Journalisten erzählt, dass mittlerweile Ö1 in der Redaktion von BBC als Vorbild für öffentlich rechtlichen Rundfunk gelte.

Aber meine Redezeit ist sehr bald zu Ende, und ich muss mir jetzt schnell die Frage stellen, wie ich es halte mit dem Nil nisi bene.

Ich würde mich nur noch verbeugen, gratulieren und dankbar allen die Hand schütteln, die am Erfolg dieses wunderbaren Radiosenders beteiligt sind, den Fixen, den fixen Freien und den Freien, (wissend, dass die Fixen frei sind, während für die Freien nicht einmal ihre Freiheit fix ist), aber ich kann das noch nicht – so lange die Gefahr besteht, dass diese heutige Geburtstagsrede sehr bald rückblickend zum Nachruf auf Ö1 werden könnte – und da wäre dann nil nisi bene nur noch zynisch. Denn die Zukunft von Ö1 ist bedroht.

Mir ist schon klar, dass es jeder Nachfolger von Gerd Bacher schwer hat, öffentlich rechtlichen Rundfunk als Notwendigkeit, Möglichkeit und Chance zu verteidigen und gar auszubauen. Aber ein Argument gilt nicht: dass die Voraussetzungen und der Kontext sich seit Bacher grundlegend geändert hätten und Bacher daher kein Maßstab mehr wäre. Die Welt ändert sich ununterbrochen, und die Voraussetzungen, die Gerd Bacher vorfand, waren auch ganz andere, als sie seine Vorgänger hatten. Das Wesentliche war nur: Gerd Bacher wusste, was Öffentlich rechtlicher Rundfunk bedeutet. Geänderte Marktbedingungen heute bedeuten nicht, dass sich der Auftrag für Öffentlich rechtlichen Rundfunk geändert hat. Die Änderung der Luftqualität hat auch nichts daran geändert, dass Menschen atmen müssen.

Wenn nun aus dem Gelüst der Willfährigkeit gegenüber einem kurzfristigen Zeitgeist die Arbeitsbedingungen des besten Radiosenders der Welt zerstört werden, eine Perle wie dieses Radiokulturhaus hier verscherbelt wird, der Kultursender in ein Großraumbüro an die Peripherie übersiedelt wird, um dort content statt Inhalt zu produzieren, wenn der produktive Kontakt der hier arbeitenden Menschen im Zentrum der Stadt mit den Kulturschaffenden gekappt wird, dann wäre die Erfolgsgeschichte, die wir heute feiern, morgen zu Ende.

Nil nisi bene? Ja, da muss ich nicht schön tun, mich nicht verbiegen, ich liebe Ö1. Aber ich kritisiere eine Intendanz, die sich zwar zeigt, wenn sie sich feiern lassen kann, aber zugleich bereit ist, zu zerstören, was wir feiern. Ein öffentlich rechtlicher Kultursender, der mit seinen Wort- und Musik-Programmen, mit seiner Kultur und Intelligenz uns Hörern die Möglichkeit gibt, mit Hirn und Herz einer Politik zu widerstehen, die nur dumme Willfährigkeit wünscht, und die das Schüren von Ängsten und von Hass als „Verteidigung unserer Kultur“ versteht.

Ich war schlaflos, stand wieder auf, schaltete den Fernseher ein, um vom hundsmüde- in den todmüde-Modus zu kommen, zappte durch die Kanäle – und blieb bei einem Film hängen, der just in diesem Moment begann. Ein Hans-Moser-Film, den ich nicht kannte, aus den fünfziger Jahren, mit Josef Meinrad und Paul Hörbiger, also klassisch. Da sah man die alten schwarz-gelben Telefonzellen, auf den Straßen den Ford Cortina und den Puch 500, Biedermeier-Straßenzüge, die es heute nicht mehr gibt, Ringstraßen-Palais, die heute als Disney-World ihrer selbst zu Bettenburgen für Touristen geworden sind, und – das Radiogebäude hier, Argentinierstraße 30A, die Studios, den großen Sendesaal. Alles ist untergegangen, alles ist verschwunden, aber diese Pracht hier, dieses Haus, hat bewiesen, dass wir es brauchen, auch wenn alles andere untergeht. Die Handlung des Films ist jetzt nicht so wichtig, nur so viel: Hans Moser, diese Ikone des Österreichischen, hatte ein Problem, die Kultur, die er repräsentierte, schien dem Wachstumfetischismus des Wirtschaftswunderkapitalismus nicht mehr gewachsen, drohte unterzugehen. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als ins Radiokulturhaus zu stürmen, in diesen Saal, in dem wir uns jetzt befinden, da fand so wie heute gerade eine Publikumssendung statt, und Hans Moser bemächtigt sich des Mikrophons, durch das ich jetzt gerade spreche, erzählt sein Anliegen, ruft die Wiener zu Hilfe – und es kommt zur größten Demonstration, die Wien je gesehen hat. Der Film hieß übrigens: „So lange die Sterne funkeln…“

Endlich konnte ich gut schlafen und selig träumen.

Heute war ich eingeladen, in dieses Mikrophon zu sprechen. Aber wenn da einer die Absicht hat, dieses Haus preiszugeben und diesen Sender zusammenzustutzen zu einem Produzenten von Content zur Überbrückung zwischen zwei Werbeeinschaltungen, dann werde ich dieses Mikrophon kapern, dann werde ich zum Moser, dann werde ich zum Aufstand aufrufen. Und das wäre nicht einmal so besonders revolutionär. Denn Ö1 ist seit 50 Jahren eine permanente Revolution gegen Kulturlosigkeit und Dummheit, gegen die Geistlosigkeit des Zeitgeists und eine stete Erfrischung gegenüber dem Modern der Moden, und dabei stets eine Instanz der Reflektion von Zeitgenossenschaft!

Dazu gratuliere ich herzlichst, davor verbeuge ich mich, – und das will ich verteidigen. Den Hörern rufe ich zu: Unterschreiben Sie die Petition „Rettet das Funkhaus“! Sie finden das im Netz.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und zugleich danke ich Ö1 für die Aufmerksamkeit, zu der uns dieser Sender immer noch verführt!“

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