ANALYSE. Österreich muss sich ernsthaft Fragen zur eigenen Sicherheit und Verteidigung stellen – und aufhören, sie zu verdrängen oder gar im Rahmen einer Wehrpflicht-Volksbefragung nur zu spielen damit.
„Angesichts des Umstandes, dass die europäische und die transatlantische Sicherheit auf das engste miteinander verknüpft sind, wird sich Österreich für umfassende institutionelle Beziehungen und eine effektive Kooperation zwischen der Europäischen Union und der NATO einsetzen. Österreich wird seine eigenen Beziehungen zur NATO weiterentwickeln, wie es den Erfordernissen seiner Sicherheit und seiner vollen und gleichberechtigten Teilnahme an der europäischen Sicherheitsarchitektur entspricht. Die Option einer späteren Mitgliedschaft wird eröffnet.“
Über diese Formulierungen kann man sich wundern. Nicht nur, wenn man sie ablehnt: Österreich verfolgt in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen eine Strategie? Lange ist es her. Das Zitat stammt aus dem Programm der Bundesregierung, die im Februar 2000 von ÖVP und FPÖ gebildet worden ist; es trägt insbesondere auch die Handschrift des damaligen ÖVP-Obmannes und Kanzlers Wolfgang Schüssel.
In der „Morgenpost“ des Nachrichtenmagazins „profil“ vom 23. Februar 2022 wird angesichts der Entwicklungen in der Ukraine bzw. der schon angriffsbereiten Truppen von Wladimir Putin eine neuerliche Debatte über einen NATO-Beitritt angeregt: Das werde zu einer Option.
Darüber sollte man streiten: Das Vorgehen Putins wird unter anderem von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) zurecht verurteilt. Es handelt sich um einen völkerrechtswidrigen Akt mit unabsehbaren Folgen, humanitär wie sicherheitspolitisch. Der Kalte Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Genauer: Er ist nicht „kalt“, es wird einer geführt. Auf der anderen Seite könnte Putin aber durchaus einkalkuliert haben, dass der Westen nicht wirklich geeint und vor allem unentschlossen ist, dass die Ukraine, ganz brutal formuliert, für ihn zu haben ist.
In Europa gibt es ein doppeltes Vakuum: Die NATO ist ein Relikt des Kalten Krieges. Sie ist gewissermaßen von den USA betrieben worden. Schon in Afghanistan haben sie zuletzt jedoch gezeigt, dass ihnen nicht mehr so wichtig ist, was außerhalb ihrer Grenzen geschieht. Die EU hat keine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufgebaut, doch Österreich hat sich als engagierter Teil davon ausgegeben.
Damit hat man sich und den Leuten etwas vorgemacht, weil man es sich vordergründig leisten konnte: Krieg in Europa? Bis zuletzt unvorstellbar. Vor genau diesem Hintergrund wurde die Option NATO-Beitritt nach dem Jahr 2000 bald wieder fallengelassen. Nicht aus inhaltlicher Überzeugung heraus.
Man begann sogar, mit Verteidigung zu spielen: In einem Wiener Gemeinderatswahlkampf brach Ex-Bürgermeister Michael Häupl im Herbst 2010 mit der sozialdemokratischen Absage an ein Berufsheer und konnte eine Volksbefragung erreichen. Dort gab es zweieinhalb Jahre später im Sinne der ÖVP, die sich plötzlich für die Wehrpflicht aussprach, eine klare Mehrheit für deren Beibehaltung. Aber nicht direkt ihretwegen, sondern aufgrund des Zivildienstes.
Jetzt ist Schluss mit lustig. Also NATO-Betritt? Nein. Die NATO ist von gestern, als Bündnis ausgerichtet gegen einen Außenfeind (früher gegen den Warschauer Pakt, heute eben geschwächt gegen Russland), sie drängt sich nicht als erste Adresse auf. Genauso gut könnte Österreich eine Rolle „als Vermittler in internationalen Konflikten im Sinne einer aktiven und engagierten Friedensdiplomatie“ (Zitat aus dem aktuellen Regierungsprogramm) einnehmen. Vor allem aber könnte es Ideen für eine zeitgemäße Sicherheit- und Verteidigungsarchitektur in Europa entwickeln inkl. seines eigenen Beitrages dafür. Das mag jetzt unbefriedigend klingen, doch genau darum geht es doch: Sich den Fragen endlich stellen – und sich nicht selbst belügen bzw. sie zu verdrängen wie in den vergangenen Jahren.
dieSubstanz.at spricht Sie an? Unterstützen Sie dieSubstanz.at >