BERICHT. Vor allem die zögerliche Haltung der ÖVP überrascht, wenn man den Zugang ihrer Klientel zur Herausforderung betrachtet.
Zerbricht die Europäische Union, steht Österreich am Rande eines Ausnahmezustandes? Die Bundesregierung verstärkt derartige Befürchtungen viel eher, als dass sie ihnen entgegentritt; die Auseinandersetzung um Zäune und technische Barrieren, eine Wiederreinführung von Grenzkontrollen, die Aussetzung des Familiennachzuges und vieles andere mehr zeugen davon, dass vor allem ein schier unbewältigbares Problem gesehen wird – und keine Herausforderung, die auch mit Chancen verbunden ist.
Bemerkenswert ist, dass neben Freiheitlichen auch ÖVP-Vertreter den „Problemzugang“ zur Sache wählen: Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, der Grazer Bürgermeister Siegried Nagl, der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer, Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz führen eine wachsende „Grenzfraktion“ in der Volkspartei an. Ihre Botschaft: „Es geht nicht mehr. Wir können nicht alles Leid der Welt allein schultern – und müssen daher, auch wenn es wehtun mag, Flüchtlinge zurückweisen.“
„Flüchtlinge können uns helfen, unseren Wohlstand zu erhalten bzw. zu vermehren“ (Daimler-Chef Dieter Zetsche)
Ist das Problem wirklich so groß? Fünf Stimmen zeigen, dass man das zumindest bezweifeln kann. Ja sogar muss: Vor allem Wirtschaftsvertreter, also Leute, die der ÖVP nicht fernstehen, zeichnen ein anderes Bild. Nämlich eines von einer Riesenchance:
- Ähnlich wie vor Jahrzehnten die Gastarbeiter könnten Flüchtlinge „uns helfen, unseren Wohlstand zu erhalten bzw. zu vermehren“, meint Daimler Vorstands-Chef Dieter Zetsche: Deutschland brauche schließlich Arbeitskräfte. Nun bekomme es sie; nämlich junge, hoch motivierte. Daher werde sein Unternehmen in Flüchtlingszentren auf sie zugehen: „Genau solche Leute suchen wir doch“, so Zetsche.
- Dem Chef der deutschen Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamts für Migration, Frank-Jürgen Weise, ist diese Woche der Kragen geplatzt. Er, der sich um Jobs und Flüchtlinge kümmern muss, hat genug davon, dass immer nur von einer Belastung gesprochen wird und die Potenziale übersehen werden, die sich durch die vielen jungen Syrer, Afghanen und Iraker ergeben: „Das ist eine gute Bereicherung unserer Arbeitswelt und unserer Gesellschaft, dass da nicht überall ältere graue Herren durch die Gegend laufen und langsam mit dem Auto auf der Autobahn rumfahren, sondern das wird eine lebendige Gesellschaft.“
- Auch in Österreich überrascht einer, der mit dem „Problem“ zu tun hat, immer wieder: Während sich Politiker seit dem Frühjahr, als die Innenministerin als Ausdruck ihrer Überforderung erstmals Zeltstädte errichten ließ, in einem Zustand anhaltender Panikmache befinden, bleibt Flüchtlingskoordinator Christian Konrad überraschend cool. Das Boot sei noch lange nicht voll, ließ er zu Beginn des Monats wissen: „Wir haben derzeit in Österreich rund 53.000 Asylwerber. Das ist nicht einmal ein Fußballstadion voll und daher auch kein Anlass, davor Angst zu haben. Es werden noch einige kommen. Viele gehen durch unser Land durch, die begleiten wir. Also, wir benehmen uns wie Mitteleuropäer, wie Menschen im 21. Jahrhundert. Und das soll auch so bleiben.“
- Auch WIFO-Chef Karl Aiginger sieht Chancen. Voraussetzung dafür, sie in Erfolge umzumünzen, ist jedoch, dass man den Flüchtlingen nicht Integration de facto verweigert, indem man ihnen nur „Asyl auf Zeit“ gewährt, sondern Deutsch lehrt und alle darüber hinaus nötigen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten gewährt: Nach drei Jahren, so Aiginger, beginnen die Menschen dann auch volkswirtschaftlich gesehen Erträge abzuwerfen, sprich Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Wie es Hunderttausende vor ihnen getan haben – und damit laut Aiginger dazu beigetragen haben, dass Österreich zum fünftreichsten Land Europas werden konnte.
- Dass Wirtschaftsvertreter die Sache lösungsorientierter sehen, bewies zuletzt auch das Wirtschaftsforum der Führungskräfte (WdF): „Manager sind Personen, die in Perspektiven und Chancen denken, die für Neuerungen aufgeschlossen sind. Deshalb macht uns dieser absolute Mangel an politischer Managementkompetenz beinahe sprachlos“, sagte WdF-Bundesvorsitzender Karl Javurek dem „Wirtschaftsblatt“ und untermauerte dies mit dem Ergebnis einer Umfrage unter seinen Mitgliedern: Sie fordern eine rasche Integration der Flüchtlinge; schließlich handle es sich „um potenzielle Führungskräfte“.