ANALYSE. Auf Eigenverantwortung hoffen und Zögerliche bitten, sich impfen zu lassen, reicht nicht: Mögliche Risiken des neuen Corona-Kurses müssen ausgesprochen werden. Erst das verleiht dem Ganzen die nötige Ernsthaftigkeit.
Auf Facebook und per du hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gerade einen eindringlichen Appell an Jugendliche abgesetzt: „Bitte lass dich impfen.“ Damit sei es möglich, den verbleibenden Sommer gut geschützt zu genießen. Ob das greifen wird? Schon bisherige Ermunterungen von Kurz, aber auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne), haben wenig bis gar nichts gebracht: Woche für Woche sinkt die Zahl der Erstimpfungen. Keine 60 Prozent der Gesamtbevölkerungen verfügen über eine solche. Darüber hinaus zu mobilisieren wird immer schwieriger: Ließen sich bis Mitte Juni wöchentlich bis zu dreieinhalb, vier Prozent der Bevölkerung eine erste Dosis verabreichen, werden es seither weniger und weniger. Zuletzt hantelte es sich nur noch um 1,2 Prozent.
Bitte sagen reich nicht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat zuletzt gezeigt, wie Mobilisierung geht. Nach einer Rede, die er Anfang vergangener Woche hielt, meldeten sich noch in der Folgenacht fast eine Million Frauen und Männer an, und schon am Donnerstag wurden mit 330.000 so viele Erstimpfungen verabreicht wie seit mehr als einen Monat nicht. Das ist einer Datenseite der französischen Regierung zu entnehmen.
Das „Geheimnis“: Macron erhöhte den Druck. Für Gesundheits- und Pflegeberufe wird eine Impfpflicht eingeführt, ab August darf nur noch ins Kino oder in ein Lokal, wer genesen, getestet oder eben geimpft ist. Letzteres gibt es in Österreich bereits, kann also nicht mehr eingeführt werden, um besonders Junge zu bewegen.
In Österreich ist eher etwas ganz anderes verhängnisvoll: Der Gesundheitsminister hat einen Sommer „wie damals“ in Aussicht gestellt, und der Kanzler hat die Pandemie wie schon vor einem Jahr de facto für beendet erklärt im Juni: „Alles was Spaß macht am Abend und in der Nacht kann wieder stattfinden“, versprach er: „Es kann getanzt, gefeiert, geheiratet werden.“
Das war gewissermaßen ein Aufruf, „Vollgas“ zu geben und erscheint gerade auch von daher hochriskant: Wieder steigen die Infektionszahlen exponentiell und selbst wenn nun ein wesentlich geringerer Anteil Erkrankter im Spital landen wird, könnten es aufgrund der großen Grundgesamtheit sehr viele werden. In Großbritannien sind die täglichen (!) Spitalsaufnahmen bereits um das fast Achtfache auf 740 gestiegen. Das ist das eine.
Das andere wird von Experten, aber auch Politikern wie dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) so zum Ausdruck gebracht: „Zudem steigt die Gefahr exponentiell, dass neue, womöglich sehr gefährliche und gegen die aktuell im Einsatz befindlichen Impfstoffe resistente Mutationen entstehen, wenn das Infektionsgeschehen explosionsartig verläuft. Dann wäre man nicht, wie in London erhofft, „quick and dirty“ durch, sondern dann ginge es umso schlimmer von vorne los. Das wäre furchtbar.“ Zitat: Herrmann in seinem jüngsten Newsletter zur Lage.
Das leitet über zu sehr unterschiedlichen Herangehensweisen: Herrmann bringt im Sinne seines Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) zum Ausdruck, dass die Bewältigung der Pandemie erstens noch nicht vorbei ist und zweitens vor allem auch eine staatliche Aufgabe bleibe: Probleme „zu“ vieler Einzelner würden letztlich alle treffen. Kurz wählt dagegen eher den britischen Zugang, der im Übrigen auch vom eidgenössischen Gesundheitsminister Alain Berset, einem Sozialdemokraten, (hier) gewählt wird: „Es wird eine Welle geben, die primär die Ungeimpften betreffen wird.“ Nachsatz: Es sei jedoch möglich, sich impfen zu lassen.
Damit geht ein großes Risiko einher, das daher auch klipp und klar ausgesprochen gehört: Der Molekularbiologe Ulrich Elling, der schon ab Herbst mit resistenteren Mutationen rechnet, findet in der „Wiener Zeitung“ deutliche Worte. In Großbritannien, aber auch in Spanien, laufe ein „Menschen-Experiment“, das er „für ethisch nicht tragbar“ halte: „Beide Länder haben extrem hohe Inzidenzen unter den Jungen, trotzdem geht die Party weiter. In England füllen sich bereits die Krankenhäuser. Die Alten sind zwar geimpft, aber wir wissen nicht, ob sie ausreichend geschützt sind. Von den Jungen sind noch nicht alle geimpft und sie werden die Seuche zeitlich verzögert in die älteren Bevölkerungsschichten tragen. Die Frage wird sein, wie viele Tote und Long Covid-Patienten versus wie viel Lockdown die Gesellschaft akzeptiert.“
In der Schweiz gibt es seit Beginn der Pandemie eine Art Grundkonsens, dass man für maximal mögliche Freiheiten einen relativ hohen Preis zu bezahlen bereit ist. In der ersten Welle gab es dort sehr viele Tote, unter anderem auch der Tourismus lief im vergangenen Winter jedoch weiter, Hotels blieben offen, die wirtschaftlichen Schäden waren wesentlich kleiner als in Österreich.
In Österreich setzte gerade auch Sebastian Kurz zunächst auf Gesundheitsschutz um fast jeden Preis. In weiterer Folge ging er mehr und mehr davon ab, bis er nun ins andere Extrem kippte: Corona ist nur noch Privatsachte. Ob er dabei all die Dynamiken unterschätzte, wie es etwa sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte getan hat, der sich auch öffentlich dafür entschuldigte, oder ob er Bilder, die kommen könnten, konsequent ausblenden möchte, bleibt ungewiss. Der Punkt ist: Er sollte sich diesbezüglich offenbaren, damit sich hinterher niemand wundert, was alles möglich geworden ist.
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