Wie sich das Bürgerliche verflüchtigt

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ANALYSE. Der neuerliche Niedergang der ÖVP in Wien ist auch, aber nicht nur Ausdruck ihrer Schwächen.

In Wien findet eine Gemeinderatswahl statt und die ÖVP erreicht 34,8 Prozent. Unvorstellbar? Vielleicht, wenn man „nur“ das Ergebnis vom vergangenen Sonntag im Kopf hat, als die Partei bei 9,7 Prozent landete – und damit weit hinter SPÖ und FPÖ, aber auch hinter Grünen und Neos, also auf Platz fünf.

Auf 34,8 Prozent ist sie bei der Gemeinderatswahl 1983 gekommen: Es war das beste Ergebnis, das die „Bunten Vögel“ unter Führung des späteren Bundesparteiobmannes und Vizekanzlers Erhard Busek erzielten. Sie standen für ein weltoffenes, urbanes Bürgertum.

Die bürgerliche „Presse“ wirft nun in einem Leitartikel die Frage auf, ob die 9,7 Prozent einen „Abgesang auf das bürgerliche Wien“ verkörpern würden. Die Zeitung antwortet selbst: „Nein.“ Die Welt werde sich mit oder ohne ÖVP weiter drehen.

Die Sache ist kompliziert, wie eine Annäherung verdeutlichen soll. Erstens: Die „Bunten Vögel“ in der ÖVP sind über die Jahre weniger geworden, die Partei hat unter anderem Platz gemacht für Grüne und Neos, die heute zusammen ganze 25 Prozent halten. Inklusive ÖVP ergibt das rund 35 Prozent.

Die Partei selbst hat zwischendurch mit Sebastian Kurz zwar mit (Wahl-)Erfolg versucht, rechts der Mitte und auf Kosten der FPÖ zu punkten. Nach dem Abgang von Kurz und dem Wiedererstarken der FPÖ ist sie jetzt aber eben wieder ziemlich genau auf das Niveau zurückgefallen, das sie 2015 hielt (9,2 Prozent). Es hat ihr unterm Strich also exakt gar nichts gebracht.

Zweitens: Man muss schon auch die gesellschaftlichen Veränderungen sehen. Für die ÖVP immer bedeutend waren und sind als Zielgruppe zum Beispiel Katholiken. Ihre Zahl sinkt auch in Wien, und noch dazu ausgehend von einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Gemessen an den österreichischen Staatsangehörigen (!) beträgt ihr Anteil in der Stadt nur noch 41 Prozent. Am höchsten ist er wenig überraschend in sogenannten bürgerlichen Bezirken wie der Inneren Stadt, Hietzing, der Josefstadt, Währing und Döbling, selbst hier beträgt er aber nur noch gut 50 Prozent (siehe Grafik).

Abgesehen davon steigt der Bildungsstand der Bevölkerung. Das tut er im übrigen Österreich auch, in Wien jedoch ist der Anteil der Hochschulabsolventen an allen österreichischen Staatsangehörigen mit 21,5 Prozent (2021) drei Mal höher. Das macht was. Akademiker stehen aus vielen Gründen politisch viel eher links der Mitte.

Außerdem trifft wohl zu, was das Marktforschungsinstitut „Integral“ auf Basis einer „Sinus-Milieu-Studie“ festgestellt hat: „Die alte, staatstragende Mitte, deren zentrale Leitmotive ‚Stabilität‘ und ‚Normalität‘ waren, existiert in dieser Form nicht mehr.“ Auch im Lichte von Krisen und Transformationsprozessen auf dem Arbeitsmarkt, die nicht zuletzt Facharbeitern zusetzen, scheinen kleinere neue „Milieus“ zu entstehen.

„Integral“ spricht von einem „Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu“, das sich nach einer vermeintlich guten alten Vergangenheit zurücksehnt und von der FPÖ umworben wird. Sowie „Progressiven Realisten“, deren Leitmotiv lautet: „Wir müssen umdenken.“ Diese Menschen werden von Grünen (in Bezug auf Klimaschutz) und Neos (in Bezug auf Verteidigung und staatliche Leistungen etwa) angesprochen.

Das erklärt ein Problem der ÖVP: Viele ihrer ehemaligen Stammwähler und mehr noch deren Nachfahren haben sich verflüchtigt und das noch dazu in unterschiedliche Richtungen, während sie selbst allenfalls versucht, zum Beispiel dem Teil zu folgen, der nach rechts zieht, dort im Endeffekt aber nur Zweite ist, weil die FPÖ dort längst die große Nummer ist.

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