ANALYSE. Pandemie, vierte Welle: Entwicklungen in der unmittelbaren Nachbarschaft sowie hektische Kurskorrekturen und „Worst Case“-Vorbereitungen sind eine Warnung. Mit Schlimmerem ist zu rechnen, indirekt auch für Geimpfte.
In der Schweiz sind ähnlich viele Menschen geimpft wie in Österreich. Insofern sollte man die jüngsten Entwicklungen ebendort im Auge behalten. Beispiel Kanton St. Gallen, der eine halbe Million Einwohner zählt: Am 1. Juli gab es einen CoV-Spitalspatienten. Am 1. August waren es zwei. Am 15. August handelte es sich um 25, tags drauf um 43 und am 17. August um 58 (davon 13 auf der Intensivstation). Das entspricht bereits dem Niveau der ersten Welle im vergangenen Frühjahr. Im Unterschied zu damals sind die Patienten nun zwar jünger (überwiegend 40- bis 60-jährig), aber das Problem bleibt: Wie es aus dem Kantonsspital St. Gallen heißt, werde man auf der Intensivstation bald wieder Engpässe haben, wenn die Zahl schwerwiegender Fälle weiter so stark steigt.
Das sollte man ernst nehmen: In Österreich muss es zwar nicht so kommen. Wie in Großbritannien könnte das Infektionsgeschehen aus erfreulich-unerfindlichen Gründen plötzlich wieder nachlassen. Auch dort hat sich die Lage im Juli jedoch so sehr zugespitzt, dass keine Rede mehr davon sein konnte, dass die Pandemie für Geimpfte vorbei sei, wie es Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) formuliert hat.
Genau genommen ist die Pandemie noch immer sehr präsent; und zwar für alle Menschen. Der „Stringency Index“, den die Uni Oxford führt, weist für Österreich aktuell einen Wert von 56 aus. Die Skala reicht von 100 (= maximale Beschränkungen) bis null (= Vor-Corona-Verhältnisse). Vieles, was zum noch immer sehr hohen Wert führt, wie die Maskentragepflicht in Lebensmittelgeschäften, wird kaum noch auffallen. Es ist aber noch da.
Die Entwicklungen in Großbritannien sind im Übrigen ein Hinweis darauf, wie sehr ein starkes Infektionsgeschehen und viele Hospitalisierungen überwiegend Ungeimpfter auch Geimpften zu schaffen machen können: Österreich hält an strengen Quarantäneregeln für Kontaktpersonen fest. In England tat man dies so lange, bis so viele Menschen auf dem Arbeitsmarkt ausfielen, dass es zu Engpässen in Supermärkten kam.
In den Spitälern gibt es immer ein Kapazitätsproblem: Betten, die mit Corona-Patienten belegt sind, fehlen anderen. Je mehr das sind, desto mehr sonstige Behandlungen und Eingriffe müssen aufgeschoben werden oder fallen aus; ob die Leidtragenden geimpft sind oder nicht.
In Wien bereitet man sich laut ORF.AT auf das „Worst-Case-Szenario“ vor, „dass die vierte Welle im Spital so einschlägt wie die dritte Welle“. Zur Erinnerung: Ein Anstieg auf mehr als 200 Intensivpatienten war damals Grund, einen regionalen Lockdown vorzunehmen, um eine Überlastung der Spitäler zu verhindern.
Auf Bundesebene sickern diese Aussichten erst nach und nach. Wenn überhaupt. Von Sebastian Kurz gibt es derzeit keine öffentlichen Aussagen; weder zu Afghanistan noch zur Pandemie. Nachvollziehbar: Er müsste eine Kurskorrektur vornehmen. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) ist gerade hektisch zu einer solchen geschritten. In der ZIB2 wollte er am Sonntagabend noch nicht über eine „1-G-Regel“ reden, wonach nur Geimpfte z.B. Veranstaltungen besuchen dürfen. In der Zeit im Bild am Dienstagabend zeigt er sich keine 48 Stunden später aufgeschlossen dafür und bewies so zumindest Anpassungsfähigkeit: „Ich glaube, dass wir vor einer zunehmend prekärer werdenden epidemiologischen Lage im Herbst über ‚1-G‘ reden müssen – und ich kann mir das im Oktober durchaus vorstellen.“
These: Noch viel früher wird man über solche und andere Maßnahmen reden müssen. Mückstein will zunächst allen eine Möglichkeit geben, sich impfen zu lassen. Es will jedoch kaum noch jemand eine solche Möglichkeit nützen, während nicht nur die Inzidenz bestätigter Infektionen, sondern auch die Zahl der Spitalspatienten zunehmend steigt. In den vergangenen zehn Tagen hat sie sich auf 293 verdoppelt (Stand 18. August).
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