ANALYSE. Anmerkung zur Frage, ob zum Beispiel eine Stadt gegenüber Aktivistinnen und Aktivsten klein beigeben muss (sie muss, ja darf es unter Umständen nicht tun).
Der Konflikt um die Errichtung einer Stadtstraße in der Wiener Donaustadt polarisiert. Beziehungsweise die nunmehrige Auflösung einer Baustellenbesetzung durch ein großes Polizeiaufgebot. Auf der einen Seite heißt es, das sei notwendig gewesen, weil das Infrastrukturvorhaben nicht nur im Sinne vieler Menschen, sondern auch einer (klaren) politischen Mehrheit sei; und weil die Entscheidung dazu nun eben auch gewissermaßen exekutiert werden müsse. Auf der anderen Seite herrscht Empörung darüber, wie mit (überwiegend) Jungen umgesprungen werde, die sich im Sinne einer weniger klimaschädlichen Zukunft so leidenschaftlich engagieren würden.
Behauptung: Das sind keine Widersprüche. Das Problem ist eher etwas, was dazwischen liegt und was man sich genauer anschauen sollte, weil es sich zunehmend auch bei anderen Konflikten ergibt.
Es geht darum: Repräsentative Demokratie ist mehr denn je mit einer diversen, aber selbstbewussten Öffentlichkeit konfrontiert, die aus kleineren und größeren Gruppen mit eben sehr unterschiedlichen Interessen besteht; und die sich besonders mit Hilfe sozialer Medien immer schneller und wahrnehmbarer organisieren kann.
Regierungen können das ignorieren und sich mit Unterstützung ihrer Parlamente darüber hinwegsetzen. Sie können in traditioneller Weise Politik machen. Dadurch können Konflikte jedoch befeuert werden. Man sieht das etwa bei der Impfpflicht. Wenn es von vornherein eine Auseinandersetzung mit Bürgerinnen und Bürgern gegeben hätte, wenn auf Ängste, Vorbehalte und irgendwelche Vorstellungen ernsthaft eingegangen worden wäre, wäre die Pflicht möglicherweise nie notwendig geworden; hätten die Proteste nicht das Ausmaß erreicht, das sie erreicht haben.
In diesem Fall hat die Politik formal alles richtig gemacht, die Impfpflicht hat den Nationalrat mit deutlichem Zuspruch passiert. Was noch folgen könnte, könnte jedoch schwierig werden für sie: Wahlerfolge für FPÖ und MFG sowie Hunderttausende, die ungeimpft bleiben. Im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit wird sie gezwungen sein, die Leute abzumahnen und im Falle des Falles immer und immer wieder zu bestrafen, sofern eine Impfung weiterhin notwendig erscheint. Das wird schmerzlich, auch für diese Politik selbst, könnte das FPÖ und MFG doch noch mehr Zuspruch bescheren.
Zur Wiener Stadtstraße: Wenn ein Projekt politisch fixiert und von keinem Gericht gekippt ist, dann kann es grundsätzlich natürlich nicht durch eine Gruppe verhindert werden; auch wenn sie erklärt, für das Gute (Umweltschutz etc.) zu sein. Sonst regiert irgendwann die Gruppe, die es versteht, sich am wirkungsvollsten in Szene zu setzen. Das geht nicht.
Das Problem hier ist, dass Politik zur Eskalation sogar beigetragen hat; und zwar durch die „Klagsdrohungen gegen Teenager“ (Schlagzeile von ORF.AT dazu). Dass es ihr nicht gelungen ist, eine Lösung mit diesen Leuten zu finden. Mag sein, dass auch stärkere und vor allem sichtbarere Bemühungen darum zu nichts geführt hätten und eine Räumung ebenfalls notwendig geworden wäre. Sie wäre aber in einem etwas anderen Kontext gestanden.
Gerade die SPÖ müsste ein Interesse an der Entwicklung von Strategien haben, die dazu beitragen, Konflikte möglichst früh zu entschärfen: Eine Partei von ihrer Größe und ihrem Gestaltungsanspruch kann sich nicht mit dem kleinen Wähleranteil unter Jungen zufriedengeben, denen Fragen wie Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz eher ein Anliegen sind. Laut SORA-Befragung erreichte die Partei bei der letzten Nationalratswahl gerade einmal 14 Prozent bei den bis 29-Jährigen. Vierzehn Prozent: Sie hatte also 86 Prozent nicht auf ihrer Seite. Das kommt nicht irgendwoher, hier ist eine Verbindung verloren gegangen.
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