ANALYSE. Der designierte ÖVP-Chef reagiert nicht auf einen messbaren Stimmungswandel in Bezug auf Flüchtlinge. Das ist bemerkenswert, weil durchaus riskant.
Ob das im Sinne von Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) ist, ist schwer zu sagen: Die „Kronen Zeitung“ die ihn und seine Flüchtlingspolitik unterstützt, fährt Generalstabschef Othmar Commenda auf, um zu verkünden, dass die Schließung der Mittelmeerroute möglich sei. Zitat: „Aus militärischer Sicht kann man nahezu alle dieser Flüchtlingsboote, die Richtung Europa unterwegs sind, abfangen.“ So der Offizier. Je nach Standpunkt kann man das nun beruhigend oder aber beängstigend finden: Die Menschen, die da versuchen, über Afrika nach Europa zu kommen, könnten aufgehalten werden; aber eben nur mit militärischen Mitteln.
Wie das ankommt, ist offen. Gut möglich, dass Kurz damit noch immer eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher anspricht. Genauso gut möglich ist aber auch das Gegenteil. Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und den Asylwerbern ändert sich nämlich. Was man vielleicht so zusammenfassen kann: Aus einer abstrakten und noch dazu bedrohlichen Flüchtlingswelle sind viele Menschen geworden, denen man täglich begegnet. Einzelne hat man unter Umständen sogar persönlich kennengelernt. Womit naturgemäß auch eine gewisse Empathie entstanden ist.
Dafür sprechen Studien, die das Sozialforschungsinstitut SORA erstellt hat und die zu überraschenden Ergebnissen geführt haben: In Wien ist ganz besonders in der Umgebung von Flüchtlingsunterkünften die Stimmung gekippt. Waren ursprünglich zum Beispiel nur 44 Prozent für die Errichtung, so sind es zuletzt 69 Prozent gewesen. Sprich: Aus einer Minderheit wurde eine satte Zweidrittelmehrheit. In Oberösterreich sagen 68 Prozent, die Aufnahme von Flüchtlingen in ihrer Gemeinde habe „sehr“ oder „eher gut“ funktioniert. Und: 71 Prozent erklären, es sei nach wie vor „unsere Pflicht“, Flüchtlinge aufzunehmen und menschenwürdig unterzubringen. Das widerpicht dem politischen Zugang voll und ganz.
Was letztlich zumindest aus einem Grund auch nicht weiter überraschen kann: Eine weitere Flüchtlingswelle ist zwar nicht auszuschließen, sie ist aber nicht da. Im Gegenteil, die Asylwerberzahlen gehen mehr oder weniger kontinuierlich zurück. Aus Afrika sind heuer 1821 Frauen, Männer und Kinder nach Österreich gekommen. Und das reicht wohl schwer aus, um aus rein wahltaktischen Überlegungen heraus eine Bedrohung auch wirkungsvoll inszenieren zu können.
Jetzt können die erwähnten Umfrageergebnisse natürlich dem eigenen Gefühl widersprechen und auch den üblichen Schwankungsbreiten unterliegen. Sie sind jedoch zu deutlich, als dass sie nicht zu denken geben müssten: Die Stimmung in der Bevölkerung ist eine andere, als Kurz, aber auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) und diverse Boulevardblätter vermitteln. Was zeigt, dass ihr Kurs nicht ohne Risiko für sie selbst ist; sie könnten den Bogen überspannen.
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