Wo bleiben türkise Rochaden?

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ANALYSE. Während grüne Regierungsmitglieder eher auch aus persönlichen Gründen gehen, sieht man sich bei der ÖVP nicht einmal jetzt aus staatspolitischen Erwägungen veranlasst, sich zu verabschieden.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist eigenen Angaben zufolge ein „Lernender“. Das lässt hoffen. In den vergangenen Tagen wurde ihm gerne zugeschrieben, als ehemaliger Berufssoldat endlich gewisse Qualitäten entfalten zu können. Klare Äußerungen zum Krieg in der Ukraine einerseits und zur Flüchtlingshilfe andererseits. Man sollte jedoch vorsichtig sein: Mehr denn je wäre es jetzt auch notwendig, Worte mit Bedacht zu wählen und dabei an Europa genauso zu denken wie an Österreich. Das ist keine Insel mehr, auf der es nicht so darauf ankommt, was gesagt wird.

Ob es vom Kanzler klug war, gerade jetzt zu erklären, dass die Neutralität einst von sowjetischen Kommunisten aufgezwungen worden sei, ist zu bezweifeln. Russischer Protest mit dem Hinweis, dass man das Land nur noch als scheinbar neutral betrachte, folgte. Wobei das große Problem folgendes ist: Die Republik steht im Augenblick nackt da, ist weder Teil eines wirkungsvollen Sicherheitsbündnisses (die EU ist es leider nicht in diesem Zusammenhang), noch ist sie durch alle wesentlichen Seiten anerkanntermaßen neutral. Es kann auch keine Vermittlerrolle mehr einnehmen. Das ist eine besondere Misere in dieser Krise.

Hier rächt sich, dass notwendige Fragen von der österreichischen Politik erst dann behandelt werden, wenn’s nicht mehr anders geht. Eine Brandschutzversicherung wird quasi erst nach Ausbruch eines Feuers erwogen. Bei Pflege, Pensionen und vielem anderem mehr. Seit Jahrzehnten läuft, wie hier dokumentiert, ein Herumlavieren zur Sicherheit im Allgemeinen und zu Neutralität im Besonderen.

Oder zur Energieversorgung. Ex-OMV-Chef Gerhard Roiss hat in einem „profil“-Interview ausgeführt, wie die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen in den vergangenen Jahren nicht reduziert, sondern erhöht worden sei. Alternativen hätte es gegeben, laut Roiss wurde jedoch politisch motiviert darauf verzichtet.

Das ist verhängnisvoll, es wird jedoch versucht, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Unmittelbar vor Beginn des Ukraine-Kriegs sprach sich Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP) medienwirksam für eine Erdgas-Notfall-Reserve aus. Wenn schon, dann hätte sie sich auch direkt an ihre Parteikollegin, Rohstoffministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP), wenden können. Diese berichtete am Sonntag auf Twitter wiederum von einer kurzfristig angesetzten Reise nach Abu Dhabi, wo sie in Begleitung von Nehammer und Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) eine Wasserstoffallianz mit den Emiraten besiegelt habe: „Diese Unterschrift ist ein Meilenstein für Österreich in Richtung Unabhängigkeit von russischem Gas.“ Vielleicht hilft’s längerfristig.

Österreich hat noch nie so unter politischer Verantwortungslosigkeit über zu viele Jahre hinweg gelitten. Das liegt in der Natur der Sache: Jetzt wird es offensichtlich. Erschwerend kommt hinzu, dass es Regierungsmitglieder gibt, die die Probleme vergrößern. Wie mehrfach erwähnt insbesondere Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) und Wirtschaftsministerin Schramböck. Er etwa mit seinem unsäglichen Vergleich zwischen Österreich 1938 und der Ukraine heute. Sie mit ihrem unfreiwilligen Eingeständnis, nicht zu wissen, wie Geldüberweisungen funktionieren.

Das ist heftig. Ein Außenminister, der seine Worte nicht mit Bedacht wählt, eine Wirtschafts- und Digitalisierungsministerin, die wie schon beim „Kaufhaus Österreich“ unfassbar Inkompetenz demonstriert. In beiden Fällen ist das im Hinblick auf anstehende Herausforderungen eine Belastung.

Die Grünen haben ein vergleichsweise kleines Regierungsteam, sie stellen den Vizekanzler, den Gesundheitsminister, die Justizministerin, die Klimaschutzministerin und die Kulturstaatssekrektärin. Hier gab es aber schon drei Rücktritte, die bei weitem nicht nur, aber auch persönlich begründet waren. Rudolf Anschober und Wolfgang Mückstein wurde die Last des Amtes zu viel. Ulrike Lunacek stand dazu, sich zu Beginn der Coronakrise nicht so um die Kultur gekümmert zu haben, wie es notwendig gewesen wäre.

Bei der ÖVP gibt es eine solche Rücktrittskultur nicht annäherungsweise. Rücktritte werden hier mit Schwäche gleichgesetzt, das zudem der Darstellung widerspricht, alles richtig zu machen. Dabei würden sie auch von einer gewissen Größe zeugen, die jetzt noch dazu von gesamtstaatlichem Interesse wäre.

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