Schlampereien rächen sich

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ANALYSE. Ob in der Pandemie im Allgemeinen oder in Bezug auf die Impfpflicht im Besonderen: Österreich mangelt es an guter, aber konsequenter Politik und harten, aber präzisen Debatten.

Frei nach George Lakoff hätte österreichische Politik schon vor einem Jahr eine Impfpflicht mit harten Strafen einführen müssen. Das hätte eher zu ihrem Zugang gepasst, Staatsbürgerinnen und Staatsbürger so zu behandeln, wie es ein strenger Vater im Umgang mit seinen Kindern zu tun pflegt. Nämlich ganz anders als fürsorgliche Eltern: Er respektiert seine Söhne und Töchter nicht so sehr als eigenständige Persönlichkeiten. Wenn sie von Sorgen und Nöten geplagt werden, nimmt er das kaum wahr. Er sagt ihnen ganz einfach, was sie zu tun haben und welchen Weg sie einzuschlagen haben. Sie haben zu gehorchen – und fertig.

In der Pandemie ist das folgendermaßen: Die Regierung freute sich Ende Dezember 2020 über die ersten Impfstoff-Lieferungen, der damalige Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sprach schon von einem „Gamechanger“, als noch kaum eine Dosis verabreicht war. Stimmen wie jene des Verhaltensforschers Florian Spitzer, der unter dem Titel „Stell Dir vor, es ist Impfung und keiner geht hin“ darauf hingewiesen hatte, dass es gerade in Österreich sehr viele Leute gibt, die sich nicht impfen lassen wollen, Motivlagen daher genauer untersucht werden müssten, um letzten Endes wirkungsvoll darauf eingehen zu können, wurden nicht einmal ignoriert. Das hatte auch etwas Despektierliches. Zwischenbilanz heute: Es ist schon lange Impfung und ein Viertel der Bevölkerung ist nicht hingegangen. Ein Wunder? Wohl kaum.

Das Unheil nimmt seinen Lauf: Zu plump war politische Kommunikation auch im Hinblick darauf, dass sie vermittelte, die Pandemie sei gemeistert und für Geimpfte überhaupt vorbei. Das war eine türkise Erzählung. Damit ging die Botschaft einher, dass man sich nicht mehr impfen lassen muss (weil die Pandemie gemeistert ist) und dass man sich als Geimpfter erst recht keine Gedanken mehr machen muss. Letzteres mag Hoffnungen entsprochen haben, zu lange aber schon ist allgemein bekannt, dass sich laufend alles ändern kann. Dass man also vorsichtig bleiben sollte. Wie auch immer: Die Glaubwürdigkeit der Regierung hat weiteren Schaden genommen. Omikron zeigt, dass „2/2“ Impfungen nicht genug waren, dass „3/3“ ungleich besser sind.

Sprung in die Gegenwart: Fast so Verhängnisvoll wie das Erwähnte ist die Begleitmusik zum laufenden Paradigmenwechsel im Umgang mit der Pandemie. Wer trotz extrem stark steigender Infektionszahlen keinen Lockdown verhängt, sendet ein Signal aus, das missverstanden werden kann. Vor allem, wenn man es unterlässt, es so zu erklären, dass es von einer Masse verstanden werden kann. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) haben es unterlassen. Also können Ungeimpfte jetzt wieder eher auf die Idee kommen, dass die ganzen Entwicklungen nicht mehr so arg sind und sie sich auch nicht mehr mit der Impffrage quälen müssen.

Schlimmer: Die Art und Weise, wie die Impfpflicht eingeführt wird, ist dazu angetan, diese Vorstellung vom Licht am Ende des Tunnels zu stärken. Karl Nehammer hofft ausdrücklich, dass nicht wirklich Ernst gemacht werden muss, dass nach einer Einführungs- und einer Übergangs- also keine Alle-Ungeimpften-werden-bestraft-Phase notwendig wird. Als Katholik könnte er wissen, worauf das hinausläuft: Wie bei der Bibelstelle, bei der alle im Glauben, dass die anderen mit Wein aufkreuzen werden, Wasser zu einem Fest mitbringen, ist hier mit Ähnlichem zu rechnen; dass nämlich Ungeimpfte kalkulieren, dass sich genügend andere impfen lassen werden, sie das also nicht tun müssen.

Wobei: Weiß man, was das Regierungsziel ist? Nein. Es gibt keine „Ziel-Quote“, bei deren Erreichen mit der Impfpflicht nicht wirklich Ernst gemacht wird. Das ist einerseits vernünftig, weil man nicht weiß, welche Varianten noch daherkommen werden und wie gefährlich diese sein werden. Andererseits: Wenn man eine neue Variante kennengelernt hat, ist es sehr wahrscheinlich zu spät, die Impfpflicht wiederaufzugreifen. Das ist ein Problem.

Wenn man sich mit der Impfpflichtdebatte auseinandersetzt, sollte man beide Seiten betrachten. Nicht nur die Regierung, wie dies in diesem Text bisher geschehen ist. Zumal auf der anderen Seite eine bedrohliche Entwicklung fortschreitet.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den schönen Satz gesagt: „Impfpflicht bedeutet Debattenpflicht“. Das setzt voraus, dass man bereit ist, aufeinander einzugehen und bestrebt ist, gerne auch zugespitzt, immer aber möglichst präzise zu argumentieren. Eine Debatte hat es in Österreich nicht gegeben. Die Impfpflicht wurde nach einer nächtlichen Konferenz am Tiroler Achensee im Morgengrauen des 19. November angekündigt. Das rechtfertigt es nicht, auf Demonstrationen mit einem gelben Stern auf der Brust herumzulaufen, von einer Diktatur zu sprechen oder Faschismus-Anspielungen vorzunehmen, wie es der mittlerweile zurückgetretene Dornbirner Bildungsstadtrat Martin Hämmerle getan hat. Das ist vielmehr erbärmlich und sollte weiter beleuchtet werden: Es lässt tief blicken, damit geht bedrohliches Potenzial einher.

In Teilen der Gesellschaft, die bei weitem nicht nur „mitte-rechts“ bzw. im Wirkungsgebiet von MFG und Herbert Kickl angesiedelt sind (Hämmerle saß für die Grünen im Stadtrat), existiert ganz offensichtlich kein Verständnis dafür, was Holocaust, Diktatur oder Faschismus waren und sind. Also muss es hier auch beim Verständnis für Geschichte, Demokratie und Menschenrechte hapern. Darauf gehört dringend reagiert, hier ist umfassende Bewusstseinsbildung nötig.

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